[infobrief] Flucht als Verbrechen? Prozess in Göttingen

libasoli goettingen libasoli.goettingen at emdash.org
Mon Okt 16 15:19:35 CEST 2006


Am kommenden Mittwoch wird im Göttinger Landgericht in zweiter Instanz über 
die Flucht der Familie Alikan aus Einbeck gerichtet werden. Die Familie 
gehört zur Gruppe der libanesischen Bürgerkriegsflüchtlinge im Landkreis 
Northeim. 

Das Strafverfahren ist eines von insgesamt 13, die von der Northeimer 
Ausländerbehörde gegen libanesische Flüchtlinge angestrengt wurde. 

Näheres zu den Hintergründen findet sich in dem angehängten Text. 

Das Strafmaß in diesem Verfahren kann entscheidend sein für Chancen der 
Familie bei einer möglichen Bleiberechtsregelung. Familie und Rechtsanwalt 
haben deswegen entschieden, auf ein Angebot zur Einstellung des Verfahrens 
gegen Frau Alikan einzugehen: Sie soll in den nächsten Tagen die Auflage in 
Höhe von 1000 Euro bezahlen, dann wird das Verfahren gegen sie eingestellt.

>Da es der Familie nicht möglich ist, diese Summe zu bezahlen, bitten wir um 
Spenden auf das Konto: 

Arbeitskreis Asyl Goettingen 
Sparkasse Goettingen 
Kto.: 10 77 502 
BLZ 260 500 01 
Stichwort: Spende Alikan


Der Prozess beginnt am Mittwoch um neun Uhr. 

Hier findet sich ein Artikel zu den Prozessen
http://www.nds-fluerat.org/rundbr/ru8586/staatenlos.htm

und hier Text zur Familie Alikan: 
__________________________________________________
7. Mai 2002 :: Erklärung zur Urteilsverkündung

>Flucht ist kein Verbrechen – Überleben ist kein Betrug!

>Gegen die Verurteilung von Seifo und Zuhalia A. vor dem Amtsgericht Einbeck

Am 7.5.2002 wird das Urteil gegen Seifo und Zuhalia A. am Amtsgerichtgericht 
Einbeck gesprochen. Den libanesischen Bürgerkriegsflüchtlingen Seifo und 
Zuhalia A. wird Betrug und Angabe „falscher Identität“ vorgeworfen. 

„Wie hoch auch immer das Strafmaß ausfallen wird, eine Verurteilung von Seifo 
und Zuhalia A. ist in jedem Fall ein politischer Skandal und eine Katastrophe 
für die Familie. Menschen, die in einer Notlage hier Schutz gesucht haben, 
dürfen dafür nicht bestraft werden. Flucht ist kein Verbrechen.“ so ein 
Sprecher des Göttinger Arbeitskreis Asyl.

Geht es nach dem Willen der Göttinger Staatsanwaltschaft, soll Seifo A. aus 
Einbeck, Vater von 10 Kindern, für zwei Jahre und neun Monate ins Gefängnis 
und seine Frau Zuhalia A.  zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt 
werden. Wegen der "Schwere des durch das Urteil zu erwartenden Eingriffs in 
die Grundrechte der Angeklagten" - so die Aussage des Richters - wurde die 
Urteilsverkündung um eine Woche verschoben. Diese Ankündigung und der Verlauf 
des Verfahrens lässt ein drastisches Urteil erwarten. Damit soll auch der Weg 
für die Abschiebung der Familie in die Türkei freigemacht werden. 

"Will der Richter Bloem den Menschen gerecht werden, muss er zu einem 
Freispruch kommen. Eine grundlegende - auch deutsche - Erfahrung ist, dass 
Fluchtgeschichten nicht auf bürokratisch korrektem Wege verlaufen können. 
Wider besseres Wissen haben weder der zuständige Staatsanwalt noch der 
zuständige Richter Kontext und Geschichte der Flucht und die Bedingungen in 
den Herkunftsländern berücksichtigt. Entsprechende Beweisanträge wurden 
sämtlich abgelehnt, ein daraufhin gestellter Befangenheitsantrag 
gleichermaßen. Sollte es zu einer Verurteilung kommen, so haben hier 
Behörden, Staatsanwaltschaft und Gericht mutwillig das Leben einer Familie 
zerstört." so ein Sprecher des Göttinger Arbeitskreis Asyl.

Seifo und Zuhalia A. gehören zu der Gruppe der über 100 libanesischen 
Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Landkreis Northeim, die seit den 1920er 
Jahren als arabische Minderheit aus den kurdischen Gebieten der Türkei in den 
Libanon ausgewandert waren, wo sie über Jahrzehnte und z.T. mehrere 
Generationen als Staatenlose lebten und arbeiteten. Vor den Gefahren im 
libanesischen Bürgerkrieg flüchteten einige weiter. Aufgrund ihrer Herkunft 
und weil sie z.T. in türkischen Melderegistern verzeichnet sind, gelten sie 
bei den deutschen Behörden nun als "Türken". Besonders kompliziert ist, dass 
es den Familien in der Türkei nicht erlaubt war, ihre arabischen Namen zu 
tragen. Sie sind dort unter "türkisierten" Namen in den Melderegistern 
eingetragen, während sie im Libanon unter ihren eigentlichen arabischen Namen 
leben konnten. In der Regel war den Familien nicht einmal bekannt, dass sie 
in den - im übrigen äußerst zweifelhaft geführten - türkischen Registern 
eingetragen sind. Lebensbedingungen, unter denen Menschen zwei verschiedene 
Namen haben, sind in Deutschland allerdings nicht vorgesehen. 

Während einige Bürgerkriegsflüchtlinge direkt nach Deutschland flohen, 
versuchten Seifo und Zuhalia A. über die Türkei zu fliehen. Anknüpfend an 
alte Registereinträge gelang es ihnen, türkische Pässe für zu bekommen. Trotz 
dieser Pässe wurde ihnen die Einreise in die BRD verwehrt. Nach Zurückweisung 
an der Grenze reisten sie kurz darauf 1990 unter ihrem tatsächlichen 
arabischen Namen ein und konnten endlich Asylanträge als libanesische 
Bürgerkriegsflüchtlinge stellen. Genau diese Fluchtgeschichte soll ihnen 
jetzt zum Verhängnis werden. Der Familie wird nun von deutschen Behörden und 
Staatsanwaltschaft vorgeworfen, sie habe sich den arabischen Namen nur 
zugelegt, um in Deutschland Sozialleistungen beziehen zu können. 

Die Familie lebt seit 12 Jahren in Deutschland, fünf der zehn Kinder sind hier 
geboren; die älteste Tochter ist 21 Jahre alt und hat selbst zwei Kinder, die 
jüngste ist drei Jahre alt. Sie alle sprechen fließend deutsch und kein Wort 
türkisch. Dennoch sollen sie nun in die Türkei abgeschoben werden. Um die 
Abschiebung in die Türkei zu ermöglichen bekamen sie allesamt Namen aus 
türkischen Einwohnerregistern. Hier geborene – und in Deutschland 
standesamtlich registrierte Kinder – werden „angepasst“: Sie bekommen neue 
Namen, neue Geburtsdaten und als Geburtsort wird das kurdische Dorf Uckavak 
genannt. Auf diesem Wege kam die Familie auch zu zwei weiteren Kindern -  die 
nicht existieren, aber in den türkischen Registern aufgeführt sind. 

Diese und andere Informationen spielten in der Verhandlung keine Rolle. Im 
Gerichtsverfahren hatten Seifo und Zuhalia A. keine Möglichkeit, ihre 
Unschuld zu beweisen, weil wichtige Beweisanträge abgelehnt wurden. So gab 
der Richter der Verteidigung keine Möglichkeit zu belegen, dass Seifo und 
Zuhalia A. ihren Lebensmittelpunkt im Libanon hatten und dort unter ihrem 
arabischen Namen gelebt haben. 

"Während andernorts ähnlich gelagerte Verfahren mit Freispruch enden oder 
eingestellt werden - so auch ein gleichlautendes Verfahren gegen den Bruder 
des Angeklagten - soll hier offensichtlich ein unseliges Exempel statuiert 
werden. Ein Schuldspruch wäre für den Angeklagten und seine Familie eine 
Katastrophe und eine Bankrotterklärung für die Göttinger und Einbecker 
Justiz. Wir fordern den Freispruch für Seifo und Zuhalia A." so der 
Arbeitskreis.

Wir fordern die Einstellung aller Strafverfahren!
Wir fordern ein dauerhaftes Bleiberecht für die libanesischen 
Bürgerkriegsflüchtlinge!