[infobrief] Trauerfeier für Matthias Lange
arbeitskreis asyl goettingen
akasylgoe at emdash.org
Die Jul 4 15:55:59 CEST 2006
Dr. Matthias Lange ist tot.
Matthias war vor 24 Jahren einer der Mitbegründer des Göttinger
Arbeitskreises zur Unterstützung von Asylsuchenden, der aus der
Unterstützung von Flüchtlingen im 'Hotel Astoria' hervorgegangen ist. Er hat
das Beratungszentrum für Flüchtlinge mit aufgebaut und viele Jahre dort in
der Flüchtlingsberatung gearbeitet. Generationen von Flüchtlingen hat er
darin unterstützt, Perspektiven zu entwickeln. Einige Jahre hat er danach in
verschiedenen EU-Projekten in der Stadt Göttingen Konzepte für die kommunale
Integration von Flüchtlingen erarbeitet. Matthias hat sich neben der
praktischen Flüchtlingsarbeit auch beim Flüchtlingsrat Niedersachsen und der
bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Pro Asyl engagiert. Er hat es verstanden,
von seinen Kenntnissen aus der Praxis einen großen Bogen zum Nachdenken über
Flüchtlingspolitik zu schlagen. Viele Entwicklungen hat er vorausgesehen,
manchmal war er der erste, der sie formuliert hat, so zum Beispiel zur
Situation der statuslosen Flüchtlinge. Seine grundsätzlichen Überlegungen
sind auch heute noch gültig.
In den letzten Jahren litt Matthias an einer schweren Krankheit. Sein Tod
traf uns unerwartet, wir werden ihn sehr vermissen.
Im Anschluss an die Trauerfeier (s. anliegende Anzeige), die am kommenden
Freitag, den 7.7.2006, um 11 Uhr auf dem Friedhof Junkerberg in Göttingen
stattfindet und auf Wunsch der Angehörigen nur von Pastor Lahmann gestaltet
wird, wollen wir uns noch einmal treffen und gemeinsam an Matthias erinnern.
Wer sich ihm verbunden fühlt, ist dazu herzlich eingeladen. Ort und Zeit
dieses Treffens werden wir am Freitag bekannt geben.
Die GöttingerInnen bitten wir, nach Möglichkeit eine Kleinigkeit zu Essen
mitzubringen.
Göttinger Arbeitskreis zur Unterstützung von Asylsuchenden e.V.
P.S. Wir denken, es wäre im Sinne von Matthias, an Stelle von freundlich
zugedachten Kranz- und Blumenspenden für die Flüchtlingsarbeit zu spenden.
Das ist zum Beispiel bei folgenden Vereinen möglich:
###AK Asyl
Sparkasse Göttingen, Kto.: 10 77 502, BLZ 260 500 01
###Flüchtlingsrat Niedersachsen
Postbank Hannover, Kto 8402306, BLZ 250 100 30
+++++++++
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen denkt daran, eine kleine Veröffentlichung
mit Texten von Matthias herauszubringen: "Nachfolgend schicken wir euch einen
Text von Matthias, der mittlerweile acht Jahre alt ist, nach wie vor aber
nichts an Aktualität verloren hat. Seiner Zielbestimmung, eine "Politik der
Zivilisierung jenseits von identitätspolitischen Konstruktionen" zu
entwickeln, "die den Vergleich und die Differenz gleichermaßen aushalten
kann und lebendig werden lässt", werden wir uns auch weiterhin verpflichtet
fühlen", schreibt der Flüchtlingsrat.
++++++++++++
Grenzen, Gewalt und Identitätspolitik*
von Matthias Lange
...Keine Grenze hat in der Praxis eine für jeden Menschen gleichermaßen
gültige Bedeutung. Es macht einen entscheidenden, und immer häufiger
über Leben und Tod entscheidenden Unterschied, ob man sie als ManagerIn,
als AkademikerIn, als junge/r Arbeitslose/r, als Flüchtling
überschreitet. Im Grunde handelt es sich bei jeder Grenze um zwei
unterschiedliche Grenzen, die nur den Namen gemeinsam haben.
Grenzen haben eine alptraumhafte Allgegenwart und zugleich sind sie
durchlässig und unsichtbar - und für wen sie im konkreten Fall die
Bewegungsfreiheit einschränken, das richtet sich nach den Interessen der
Einschränkenden. So ist die Grenze für eine/n Reiche/n aus einem reichen
Land heute zu einem Faktor der symbolischen Anerkennung ihres bzw.
seines sozialen Status geworden: Für sie und für ihn bedeutet der Paß
zunehmend nicht nur Staatszugehörigkeit, Schutz und Bürgerrechte,
sondern zusätzliche Rechte - insbesondere das weltweite Recht
ungehinderter Freizügigkeit. Für eine/n Arme/n aus einem armen Land ist
die Grenze etwas ganz anderes. Sie ist nicht nur ein sehr schwer zu
überwindendes Hindernis, sondern auch ein Ort, auf den man wieder und
wieder trifft, und an dem man sich schließlich ständig aufhält, zu dem
man "wird" - darauf komme ich gleich zurück.
Dies führt zu einer "weltweiten Apartheid"[1] <#_ftn1> und gleichermaßen
dazu, daß Grenzen heute keine rein äußerlichen Tatsachen mehr sind, daß
sie heute dabei sind, zu Binnengrenzen in der Gesellschaft zu werden:
Die Grenzen des Staates sind dabei, zur Form des Staates zu werden.
Deutlich wird dies zum Beispiel im aktuellen europäischen
Vereinigungsprozeß: Denn auf der einen Seite tritt bereits heute jeder
Mitgliedsstaat an seiner Grenze als Vertreter aller übrigen europäischen
Staaten auf, die Grenzen wandern nach außen und die Grenzbefestigungen
werden zunehmend auch über die Grenze exportiert. Auf der anderen Seite
wandern die zwischen den Schengenstaaten aufgehobenen Grenzen nicht nur
nach außen, sie wandern auch ins Innere der Staaten. So sind Grenzen
heutzutage in Europa mehr und mehr allgegenwärtig: Die Grenze ist
überall, und bestimmte Grenzen liegen überhaupt nicht mehr im
geographischen Wortsinn "an den Grenzen".
Die Grenze ist jetzt überall dort, wo selektive Kontrollen vorgenommen
werden. So können Zoll- und GrenzbeamtInnen nicht mehr nur in Flughäfen,
entlang der Flüsse, Meere und Wälder der EU-Außengrenzen, sondern auch
in einem 30 Kilometer breiten Grenzraum operieren: "Schleierfahndung".
Darüber hinaus kann die Polizei "gefährliche Orte" definieren, an denen
"verdachtsunabhängige Personenkontrollen" durchgeführt werden können.
Jede U-Bahnstation wird so zum potentiellen Grenzkontrollpunkt.
Durch die Gleichzeitigkeit und die auf den ersten Blick undurchschaubare
Willkür beider Prozesse der Öffnung von Grenzen und ihrer
perfektionierten Vervielfältigung wird erreicht, daß die zunehmende
Kontrolle aller Personen und ihrer Bewegungen durch den Staat für den
"Normalbürger" weitgehend unsichtbar bleibt.
Die Grenzen differenzieren und vervielfältigen sich: Sie begrenzen den
gesellschaftlichen Raum nicht mehr lediglich von außen, der
gesellschaftliche Raum wird vielmehr zunehmend mit einem Kontrollnetz
überzogen, das ihm seine spezifische Form gibt und wie eine
allgegenwärtige Grenze funktioniert.
Die spezifische Form eines Staates, der in seinem Innern wie eine Grenze
funktioniert, wird durch alle möglichen Spielarten von Identitätspolitik
gestaltet. Eine der gegenwärtig vorherrschenden Formen von
Identitätspolitik wird in Deutschland immer noch selten als das
bezeichnet, was sie ist: als Rassismus. So werden zwar im Zuge der
geschilderten Entwicklung alle Bürger Europas zu potentiell gefährlichen
Grenzgängern, in der Realität sind es freilich nur die, deren Aussehen
sie als Nichtzugehörige "verdächtig" macht, und die sich deshalb
ausweisen müssen. So schwierig es sein mag, an einer Grenze zu leben, so
bedeutet dieses doch nichts im Vergleich dazu, selber eine Grenze zu
sein - und durch die im Zweifelsfall täglichen Kontrollen ständig daran
erinnert zu werden. Und dieser "Zweifelsfall" tritt mit besonders
penetranter Regelmäßigkeit dann auf, wenn die Grenze einem Menschen "ins
Gesicht geschrieben" steht, wenn die Pigmentierung der Haut, der Haare,
der Augen und so weiter ihn bzw. sie als potentiellen Grenzgänger
"verdächtig" macht.
"Jede Diskussion über Grenzen bezieht sich auf die Begründung von
bestimmten - nationalen und anderen - Identitäten."[2] <#_ftn2> So weit
Étienne Balibar, und um mit Niklas Luhmann fortzufahren: "Und weil es um
Identität geht, geht es auch um Gewalt."[3] <#_ftn3> Diesem identitär
geprägten Zustand der Gewalt und den ihm entsprechenden Formen von
Identitätspolitik gilt es - so die Forderung von Étienne Balibar - eine
solidarische Politik entgegenzusetzen, die immer zugleich eine "Politik
der Zivilisierung der gewaltsamen Identitäten"[4] <#_ftn4> sein muß:
Eine/ Politik der Zivilisierung/, die die Möglichkeiten des
Zusammenlebens der verschiedenen Formen von Identität und Andersheit
regelt und definiert.
Es gibt eine Vielzahl von aktiven und passiven, gewollten und
hingenommenen, individuellen und gemeinschaftlichen Identitäten, und sie
alle lassen sich als Konstruktion oder Fiktion erklären. Das Problem ist
nur, daß die Konstruiertheit den "gelebten Identitäten" nichts von ihrer
praktischen Wirksamkeit nimmt. Jedenfalls - um noch einmal mit Étienne
Balibar zu reden - "jedenfalls ist die Frage der Identität objektiv
schwierig, denn sie wäre weder durch einen Identitätsdiskurs noch durch
einen der Gegenidentität zu regeln."[5] <#_ftn5> Aber eins ist deutlich
- so zumindest meine These: Nicht "die Identitäten" sind im politischen
Sinne "ein Problem"; das Problem sind vielmehr die Formen identitärer
Politik: Sie gilt es politisch zu zivilisieren, weil sie allesamt wie
eine Grenze funktionieren.
Daß der Rassismus aus meiner Sicht wesentlich eine Form von
Identitätspolitik ist, hatte ich bereits angedeutet. Aber auch der
Antirassismus kann sich selbst als eine Art von Gegenidentität
konstruieren.
Eine antirassistische Politik aber, die selber wie eine Grenze
funktioniert, dürfte sich kaum in die Lage versetzen können, eine
Politik im Sinne von Zivilisierung zu formulieren. Auf sie träfe dann
der Tendenz nach das zu, was Jacques Rancière in Bezug auf den Rassismus
feststellt: "Der Rassismus behandelt Identitäten so, wie sie
übrigbleiben, wenn es keine Politik mehr gibt."[6] <#_ftn6>
Wenn es - wie ich ergänzen möchte - keine /Politik im Sinne von
Zivilisierung /mehr gibt, denn natürlich gibt es dann, wenn es im Sinne
von Jacques Rancière "keine Politik mehr gibt", immer noch Politik:
"Identitätspolitik" nämlich: Jene gewaltsame Form identitärer Politik,
die sich (zum Beispiel) rassistisch artikuliert und die immer "die
Erscheinungsform ihres Gegenteils ist: der radikalen/ Entpolitisierung
/des Sozialen."[7] <#_ftn7>
Diese "Entpolitisierung des Sozialen" trifft natürlich nur auf das
alltägliche Leben jener übergroßen Mehrzahl der Menschen zu, deren
Alltag sich im lokalisierten Raum abspielt. Oben hatte ich mit Étienne
Balibar davon gesprochen, daß die Entwicklung der Grenzen sich in
Richtung auf eine /weltweite Apartheit/ bewegt, daß es zugleich aber
eine wachsende Zahl von Menschen gibt, für die die Grenzen das Gegenteil
von Abschottung bedeuten: Sie leben "in der Globalität" und für sie
symbolisieren alle Grenzen die Anerkennung ihres faktischen
Weltbürgerstatus der ungehinderten Freizügigkeit.
Der Entpolitisierung des Sozialen entspricht auf der anderen Seite eine
unübersehbare Politisierung des Globalen. - Damit greife ich auf eine
Unterscheidung zurück, die ich im folgenden kurz ausformulieren will, um
auf ihrer Grundlage zu einer näheren Bestimmung dessen zu kommen, was
oben mit Étienne Balibar als eine "Politik der Zivilisierung der
gewaltsamen Identitäten" bezeichnet wurde.
Es ist dies die Unterscheidung zwischen einer "globalen" Lebensweise auf
der einen und der "lokalisierten" Lebenswelt auf der anderen Seite. Denn
/Lokalisierung /und /Globalisierung /sind zwei Seiten desselben
Prozesses, und zwar eines Prozesses, der zu einer Art Spaltung geführt
hat: Die Weltbevölkerung spaltet sich heute bereits in zwei Teile, in
zwei Sorten von "Bevölkerung", die auf verschiedenen Seiten der Welt
leben und jeweils nur die eine Seite sehen (können): "Einige bewohnen
den Globus, andere sind an ihren Platz gefesselt."[8] <#_ftn8> Dieses
Geschehen ist /auf der Seite der Lokalisierung/ unter anderem dadurch
geprägt, daß alle "Normalbevölkerungen" der Staaten dieser Welt
praktisch ausgeschlossen sind von der Möglichkeit "auf der Seite der
Globalisierung" zu leben und - wie Zygmunt Bauman sehr plastisch sagt -
/den Globus zu bewohnen/.
Es zeigt sich, daß der Unterschied zwischen globalisierter und
lokalisierter Lebensform dann besonders deutlich ins Auge springt, wenn
man die Wirkungsweise von "Identität" untersucht: Auf der globalen Seite
können "die Identitäten" in eine wechselseitige Kooperationsbeziehung
gebracht werden - weil es offensichtliche gemeinsame Interessen gibt.
Gemeinsame Interessen, die gewissermaßen "von Natur aus"
kulturübergreifend und weltumspannend zugleich sind, sodaß "die
Identitäten" ohne große Probleme in eine wechselseitige
Kooperationsbeziehung gebracht werden können.
Auf der lokalisierten Seite dagegen sind es genau diese "Identitäten",
die Kooperation verhindern oder zumindest erschweren. Mit anderen
Worten: Genau in dem Maße wie "die Identitäten" auf der Seite der
Globalisierung lediglich als ein Problem des wechselseitigen Verstehens
und Anerkennens zum Zwecke erfolgsorientierter, supranationaler
Kooperation zwischen Individuen, Institutionen, Gebietskörperschaften,
Unternehmen erscheinen, genau in demselben Maße entfalten sie auf der
Seite der Lokalisierung ihre "zerstreuende", entfremdende und
gewaltförmig-fragmentierende Kraf
Wir sollten uns gemeinsam auf die Suche nach einem politischen Weg
begeben, der hin führt zu einer /Kultur der Gleichberechtigung und
der Solidarität/: Zu einer Politik der Zivilisierung, die den Vergleich
und die Differenz gleichermaßen aushalten kann und lebendig werden läßt.
Um eine Politisierung des Sozialen /in der Lokalisierung/ in diesem
Sinne vorantreiben zu können, brauchen wir Informationen und speziell
jenes Wissen, das uns befähigt, eine Politik der Zivilisierung jenseits
von identitätspolitischen Konstruktionen zu entwickeln. ...
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[1] <#_ftnref1> Étienne Balibar, Grenzen und Gewalten. Asyl,
Einwanderung, Illegalität und Sozialkontrolle des Staates; in: Lettre
international 37/1997, S. 7-8, hier: S. 8.
[2] <#_ftnref2> Étienne Balibar, Grenzen und Gewalten. Asyl,
Einwanderung, Illegalität und Sozialkontrolle des Staates; in: Lettre
international 37/1997, S. 7-8, hier: S. 7.
[3] <#_ftnref3> Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der
Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 797.
[4] <#_ftnref4> Étienne Balibar, Globalisierung/Zivilisierung
2; in: documenta und Museum Fridericianum (Hrsg.), Das Buch zur
Dokumenta X: politics-poetics, Kassel (Cantz) 1997, S. 786-799, hier: S.
799.
[5] <#_ftnref5> Globalisierung/Zivilisierung 1, Étienne Balibar,
Jean-François Chevrier, Chaterine David und Nadia Tazi im Gespräch; in:
documenta ... a.a.O., S. 774-783, hier: S. 776.
[6] <#_ftnref6> Jacques Rancière (im Gespräch mit
Jean-François Chevrier und Sophie Wahnrich), Die Demokratie als
politische Form; in: documenta ... a.a.O., S. 800-804, hier S. 804.
[7] <#_ftnref7> So - unter Bezug auf Jacques Rancière - Slavoj
Zizek, Das Unbehagen im Multikulturalismus; in: Das Argument 224,
40. Jg. (1998) Heft 1-2, S. 51-63, hier: S. 55.
[8] <#_ftnref8> Zygmunt Bauman, Schwache Staaten.
Globalisierung und die Spaltung der Weltgesellschaft; in: Ulrich Beck
(Hrsg.): Kinder der Freiheit, Frankfurt am Main 1997, S. 315-332, hier:
S. 327f.
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